
„Gott ist Brasilianer”
08.04.2025
Vor 60 Jahren beginnt für Dürr ein Abenteuer. Das schwäbische Familienunternehmen gründet in Brasilien die erste Auslandsgesellschaft. Der mutige Schritt nach Übersee ist der Auftakt für die globale Expansion des Konzerns.
Es ist eine Zeit des Aufbruchs, als Heinz Dürr 1957 brasilianischen Boden betritt. Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge begründen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die erste Boeing 707 steigt in den Himmel und mit dem sowjetischen Sputnik-Satelliten beginnt die Eroberung des Weltalls. Auch Unternehmen machen sich in dieser Zeit auf den Weg zu neuen Ufern. Der erst 24-jährige Heinz Dürr wird zwei Monate in Brasilien bleiben, um das Land als potenziellen Auslandsmarkt zu erkunden.
Auf dem Zettel des Juniorchefs stehen Gespräche mit Wirtschaftsvertretern. Unter anderem besucht er die Firma Gema, die Maschinen zur Oberflächenbehandlung von Karosserien herstellt und damit gut zum Familienunternehmen Dürr passt. Die Verhandlungen laufen erfolgreich und münden in eine Kooperation. Sie wird zur Keimzelle der späteren Dürr-Tochter in Brasilien, die 1964 gegründet wird. 60 Jahre später wurde das Jubiläum von „Dürr do Brasil“ groß gefeiert.
Die Gründung in Brasilien ist der Startschuss für die weltweite Expansion von Dürr, die sich in den darauffolgenden sieben Jahren in Mexiko, den USA und Südafrika fortsetzt. Die Zusammenarbeit von Standorten auf der ganzen Welt trägt den Konzern über die Jahrtausendwende und prägt bis heute seine Unternehmenskultur. Derzeit ist der Dürr-Konzern mit 139 Standorten in 33 Ländern aktiv.
Die 1960er-Jahre sind die richtige Zeit für den Sprung nach Südamerika. Nach einer schwierigen Phase wächst Brasiliens Wirtschaft. Der Lebensstandard steigt, immer mehr Menschen möchten ein Auto haben. Über eine Million Fahrzeuge werden zwischen 1957 und 1964 in Brasilien gebaut. Große Hersteller wollen von dort aus den amerikanischen Markt erobern. Dafür brauchen sie jedoch zuverlässige Lieferanten von hochwertigen Maschinen und Anlagen.
Müssen eine Firma gründen!
Heinz Dürr in einem knappen Telegramm an seinen Vater Otto Dürr
Vielversprechend, aber voller Unsicherheiten
Dürr will diesen Bedarf bedienen und bekommt seine Chance, als Volkswagen eine neue Fertigung in São Paulo baut und moderne Lackiertechnik benötigt. Der Auftrag bedeutet den Einstieg in den Großanlagenbau. Allein mit lokalen Unterlieferanten ist das nicht zu schaffen. Daher entschließt sich Dürr, eine eigene Fertigung in Brasilien aufzubauen. Ein kühner Plan. Den Schritt nach Lateinamerika bezeichnet Heinz Dürr in späteren Jahren als riskant. „Vielversprechend, aber voller Unsicherheiten“, so der 2023 verstorbene Unternehmer.
Skeptisch sind auch die Banken, bei denen Dürr nach Rückendeckung fragt. Die meisten winken ab. Nur eine genossenschaftliche Bank in Stuttgart-Feuerbach ist bereit, die geforderte Bürgschaft von 500.000 D-Mark zu geben. Der Direktor scheint zu begreifen, welche Chancen das ferne Land bietet. Überliefert ist seine Aussage: „Brasilien ist weit weg, aber da drüben passiert eine Menge.“
Nur ganz kurz
Anfang der 1960er-Jahre fehlen an vielen Stellen noch Kabel, um über den Atlantik zu telefonieren. Auch von Brasilien aus ist die Nachrichtenübermittlung schwierig – und erfolgt oft per Telegramm. Entsprechend knapp ist die Botschaft, die Heinz Dürr in einem entscheidenden Moment Richtung Heimat senden lässt: „Müssen eine Firma gründen!“ In ein paar dürren Worten bittet er seinen Vater, 20.000 Schweizer Franken und den Firmenanwalt über den Atlantik zu schicken. Mehr brauchte es nicht. Die Gründung gelingt.
Firmenfunk statt Telefon
In den 1960er-Jahren gibt es in weiten Teilen Brasiliens noch kein Telefon. Die damals übliche firmeninterne Verständigung ist heute kaum mehr vorstellbar: José Gimenez Sanchez, der 1967 mit 20 Jahren als Bürojunge bei Dürr Brasil anfängt und sich später im technischen Support hocharbeitet, berichtet, wie sich Beschäftigte mithilfe von Funkgeräten verständigen. Boten pendeln zwischen Verwaltung und Fabrik, um Pläne und Zeichnungen hin- und herzuschicken. Stunden gehen für Übermittlungen drauf, die heute per E-Mail nur Sekunden brauchen.
Die erste eigene Fertigung von Dürr entsteht in Santo Amaro vor den Toren von São Paulo. Heute ist das ein prosperierender Vorort, vor 60 Jahren eine Einöde. Patriarch Otto Dürr ist nicht amüsiert, als ihm sein Sohn die Idee vorstellt. „Bist du verrückt? Das sieht ja aus wie eine Wüste“, entfährt es ihm. Schlussendlich lässt er sich überzeugen.
Dienstfahrt zur Geburt
Dürr Brasil erlebt immer wieder starke Wachstumsphasen und stellt neues Personal ein. Darunter sind auch Kollegen aus anderen Ländern, die für einen begrenzten Zeitraum in Brasilien arbeiten. Fani Maria Jacintho aus der Personalabteilung hat die Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Sie unterstützt in allen Lebenslagen, hilft bei der Wohnungssuche oder vermittelt Haushaltshilfen. Ein besonderes Erlebnis hat sie mit der hochschwangeren Frau eines US-Mitarbeiters. Der schafft es nicht mehr, rechtzeitig von der Arbeit zu kommen, um seine Gattin ins Krankenhaus zu bringen. „Sie rief mich verzweifelt an, ich raste mit ihr in die Klinik und fast wäre das Kind in meinem Auto zur Welt gekommen“, erzählt Jacintho. Mit der Familie fühle sie sich seitdem eng verbunden.
Tüftler und Goldhelm
Brasilien zieht nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen aus ganz Europa an. Viele wollen Not und Zerstörung entgehen und sich weit weg von der Heimat ein neues Leben aufbauen. Einer davon ist Sergius Erdelyi. Der geniale Tüftler kommt 1919 in der serbischen Stadt Novi Sad zur Welt, lebt später in Österreich. Eigentlich wollte er in die USA auswandern. Weil er aber mit seinem Hund nicht einreisen durfte, entschied er sich für Brasilien. Er spricht mehrere Sprachen und bringt bei seiner Ankunft in Brasilien 20 Patente mit. In São Paulo gründet er eine Firma für Industrieausrüstung.
Sein Unternehmen unterstützt Dürr bei dem Großauftrag für das Volkswagenwerk in São Paulo. Die Schwaben sollen eine hochmoderne Lackieranlage liefern. Für damalige Verhältnisse ein großer und sehr schwieriger Auftrag. Zwar versteht man bei Dürr schon viel von der anspruchsvollen Technologie. Allerdings beginnt das Unternehmen zu dieser Zeit erst, sich zum Komplettanbieter von Systemen für die Autoindustrie zu entwickeln. Lackierkabinen hat man noch nie gebaut, geschweige denn eine komplette Lackierstraße. Auch beim Auftragswert stößt man in neue Dimensionen vor, er ist höher als der bisherige Jahresumsatz.
Die Arbeit beginnt. „So eine durchlaufende Lackierstraße verlangte den neuesten Stand der Technik“, schreibt Erdelyi in einem Rückblick. Zunächst sind exakte Zeichnungen nötig. Die werden natürlich ohne Computer gefertigt – nur mit Tusche, Zeichendreieck und Lineal. Die Reißbretter sind riesig und tragen Papierbögen, die fast einen Quadratmeter groß sind. Erdelyi gehört zu den Männern, die das Projekt vorantreiben. Heinz Dürr versteht sich gut mit dem blonden Manager und nennt ihn augenzwinkernd „Goldhelm“.
Bist du verrückt? Das sieht ja aus wie eine Wüste.
Otto Dürr zu seinem Sohn Heinz Dürr
Großfeuer entfacht Selbstvertrauen
Im Jahr 1970 ist Dürr Marktführer in Brasilien. Neben Volkswagen gehören nun auch GM und Mercedes zu den Kunden. Doch im selben Jahr muss die junge Tochter beweisen, was sie wirklich kann. Im VW-Werk in São Paulo bricht kurz vor Weihnachten ein Feuer aus. Die nagelneue Lackierstraße wird zerstört. Die Rauchsäule ist 20 Kilometer weit zu sehen.
Mit Geschick und Einfallsreichtum baut Dürr eine behelfsmäßige Lackieranlage auf. Nur wenige Wochen später kann VW wieder fertigen. Ein ungeheurer Kraftakt, erinnert sich Erdelyi. „Mein größtes Projekt bei Dürr war zweifellos die Rettung von Volkswagen nach dem Feuer. Ich habe für den Wiederaufbau alles gegeben.“
Das Ereignis gräbt sich tief ins gemeinschaftliche Bewusstsein des Unternehmens ein und gibt der Belegschaft Selbstvertrauen. In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelt sich Dürr Brasil zu einer verlässlichen Konstante: Über politisch und wirtschaftlich wechselnde Zeiten hinweg beliefert die südamerikanische Tochter andere Länder des Kontinents mit hochmoderner Lackiertechnik. Seit nunmehr 60 Jahren ist Brasilien eine unabdingbare Stütze des Konzerns. Brenzlige Situationen wendeten sich immer zum Guten. Heinz Dürr benutzte in diesen Fällen gern ein in Brasilien verbreitetes Sprichwort, das seine Zuneigung für das Land widerspiegelt: „Deus é brasileiro” – „Gott ist Brasilianer”.
Ohne Erbe nach Brasilien
Zahlreiche Menschen mit berührender Lebensgeschichte treiben den Aufbau der brasilianischen Dürr-Tochter voran. So zum Beispiel Ignazio Sidoti. Der gebürtige Sizilianer kam nach dem Zweiten Weltkrieg mit Eltern und Geschwistern nach Südamerika. Sidotis Vater wurde im Krieg fälschlicherweise für tot erklärt. Doch er kehrte aus Russland zurück. Dummerweise hatten seine Geschwister da das Erbe der Eltern schon aufgeteilt. Auswandern war wohl die beste Option. Im Jahr 1957 beginnt Ignazio für ein Unternehmen zu arbeiten, das kurze Zeit später in der brasilianischen Dürr-Tochter aufgeht. Und er macht seinen Weg. Zunächst als Hilfskraft, dann als Technischer Zeichner. So erzählt es sein jüngerer Bruder Salvatore, der es später zum Vertriebsmanager bei Dürr Brasil bringt.
Teil unserer DNA
Roberto Tkatchuk zum 60-jährigen Jubiläum von Dürr Brasil
Seit rund 20 Jahren stehe ich an der Spitze von Dürr Brasil. Jetzt, wo ich 60 Jahre alt werde und wir 60 Jahre Dürr in Brasilien feiern, habe ich das Gefühl, dass die Prinzipien, die unser Gründer Heinz Dürr uns hinterlassen hat, bis heute Teil unserer DNA sind. Unsere Kultur der Effizienz ist sehr ausgeprägt, und im Zuge der Modernisierung des Unternehmens habe ich seine technologische Entwicklung aufmerksam verfolgt.
Wir haben an der Produktion von Fahrzeugen mitgewirkt, die zu echten nationalen Ikonen geworden sind und die Mobilität nicht nur in Brasilien, sondern auch in anderen Ländern Südamerikas verändert haben. Im Lauf meiner langjährigen Erfahrung ist mir klar geworden, dass unsere Arbeit weit mehr umfasst als die Endmontage und das Lackieren von Fahrzeugen. Unser Engagement in der Automobil- und Nutzfahrzeugindustrie dient dazu, leistungsstarke und innovative Technologielösungen anzubieten, wobei wir stets die Nachhaltigkeit im Auge behalten und uns auf die Reduzierung der Umweltbelastung konzentrieren. Das ist es, was uns wichtig ist, und was wir unseren Kunden und der Gesellschaft bieten.
Bis heute sind wir auf dem nationalen Markt führend. Wir sind nicht nur ein Lieferant, wir sind ein Partner für unsere Kunden. Deshalb war es immer und wird es immer unser oberstes Ziel sein, sie zu unterstützen, ihre Bedürfnisse zu verstehen und ihnen die besten Lösungen anzubieten.
Mit Dankbarkeit für die Vergangenheit, die uns zu unserem 60-jährigen Jubiläum geführt hat, und mit Begeisterung für das, was die Zukunft bringt, sind wir bereit, weitere Erfolgsgeschichten zu schreiben und gemeinsam mit unseren Kunden die brasilianische Industrie mit Produkten zu revolutionieren, die die Effizienz steigern.
- Dürr ist ein Familienunternehmen in der dritten Generation - lernen Sie zwei Familien kennen, in denen mehrere Familienmitglieder über Generationen hinweg im Unternehmen arbeiten: → Familiensache

Mathias
Christen
Senior Manager & Spokesperson
Corporate Communications & Investor Relations
Dürr Aktiengesellschaft
Carl-Benz-Str. 34
74321 Bietigheim-Bissingen
Deutschland
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