Zerreissprobe
20.03.2020
Die Zahl der E-Autos wächst rasant. Hersteller entwickeln immer neue Elektromotoren. Deren Herzstück ist ein Rotor, der sich bis zu 20.000-mal in der Minute dreht. Experten der Dürr-Tochter Schenck RoTec prüfen dieses wichtige Bauteil in ihren Schleuderständen – manchmal bis die Trümmer fliegen.
Der drei Meter hohe Koloss ist mit Stahl ummantelt, die schwere Haube durch 14 daumendicke Bolzen gesichert. Ein Techniker blickt auf seinen Monitor und verfolgt den Ablauf des Tests. An dem Schleuderstand von Schenck herrschen Konzentration und Ruhe. Nur das Summen eines Motors ist zu hören. Aber nichts deutet darauf hin, dass im Innern des verschlossenen Behälters Kräfte von mehreren Tonnen wirken, die das Bauteil extremen Belastungen unterwerfen.
Für die Entwickler von Rotoren, Turbinen oder Triebwerken sind Prüfungen auf Schleuderständen oft unentbehrlich. „Mit ihrer Hilfe lässt sich die Belastbarkeit von Materialien hervorragend testen“, sagt Andreas Buschbeck. Der 61-Jährige leitet den Schleuderservice von Schenck RoTec, einer kleinen, aber schnell wachsenden Einheit des Dürr-Konzerns.
Das Darmstädter Traditionsunternehmen ist als Experte für Auswuchttechnik bekannt. Auch der Verkauf von Schleuderständen gehört schon lange zum Geschäft. „Seit 2010 bieten wir unseren Kunden zusätzlich → Schleudertests als Dienstleistung an“, sagt Buschbeck. Was am Anfang neben dem Verkauf der Schleuderstände ein Nischengeschäft war, nimmt immer mehr Fahrt auf. Allein in den vergangenen vier Jahren hat sich der Umsatz des jungen Geschäftszweigs vervierfacht.
Mithilfe der Prüfungen auf Schleuderständen lässt sich die Belastbarkeit von Materialien hervorragend testen.
Andreas Buschbeck , Leiter Technical Consulting bei Schenck RoTec
Kräfte wie im Kettenkarussell
Grund dafür ist der Boom der Elektromobilität. Autohersteller entwickeln zunehmend die dafür notwendigen Motoren. Deren Herzstück ist ein Rotor, der mit seinen Magnetfeldern aus elektrischer Energie Bewegungsenergie erzeugt. „Die Rotoren drehen sich beim Fahren bis zu 20.000-mal pro Minute“, sagt Buschbeck. Gewaltige Fliehkräfte wirken auf das Metall ein, wie beim Kettenkarussell, wo die Sitze nach außen gezogen werden, wenn es sich schnell dreht. Im Schleuderstand wird getestet, wie gut ein Bauteil diesen massiven Kräften standhält.
Kann man errechnen, wie stark die Kräfte sind? „Klar“, antwortet der studierte Physiker Buschbeck und diktiert die passende Formel: „F = U ∙ Ω2.“ Geht es ein wenig anschaulicher? Andreas Buschbeck lacht, nimmt Papier und Stift. Sekunden später liest er das Ergebnis vor: „Bei einem in den Rotor eingesetzten Magneten mit einem Gewicht von 20 Gramm und 20.000 Umdrehungen in der Minute ist das über eine halbe Tonne.“ Ziemlich viel, wenn man bedenkt, dass in einem einzigen Rotor mehr als ein Dutzend Magnete sitzen. Diese ungeheuren Kräfte ziehen an dem Material und verformen es. Und warum schauen sich die Experten vor allem den Teil des Rotors an, in dem der Magnet sitzt? „Weil dort die Struktur des Materials unterbrochen und damit empfindlicher ist“, erklärt Buschbeck.
Die winzigen Ausbeulungen, die bei hohen Umdrehungszahlen entstehen, lassen sich mit dem bloßen Auge nicht erkennen. Doch für die Stabilität des Materials können sie entscheidend sein. Weiterhin ist es möglich, dass selbst durch kleinste Verschiebungen einzelner Bauteile eine Unwucht entsteht, die Motoren vibrieren lässt. Das ist laut und führt zu schnellerem Verschleiß. Im Schleuderstand werden Veränderungen deshalb mit digitaler Technik präzise gemessen. Aus den Ergebnissen lässt sich ablesen, ob der Rotor so konstruiert ist, dass er den gewünschten Anforderungen entspricht, sagt Buschbeck. Verformt sich das Bauteil im Schleuderstand stärker als erwartet, haben die Entwickler der Rotoren noch Arbeit vor sich.
Nach dem Studium kam Andreas Buschbeck vor 32 Jahren zur heutigen Dürr-Tochter und entwickelte zunächst Auswuchtmaschinen. Später brachte er als interner Berater die Schleudertechnik voran. Doch es lohnt sich nicht für jeden Kunden, eine eigene Anlage zu kaufen. Als immer mehr von ihnen um Rat in Schleuderfragen baten, begannen die Experten damit, einen neuen Geschäftszweig aufzubauen. Heute sind im → Schenck Technologie- und Industriepark jeden Tag vier Schleuderstände in Betrieb, um Bauteile und Materialproben zu testen. Besonders wichtig für die Kunden ist, dass Schenck-Experten die gewonnenen digitalen Daten genau analysieren können. „Diese Beratungsleistung ist ein wichtiger Teil unseres Angebots“, sagt Buschbeck.
Spuren der Härtetests
Manche Prüfungen im Schleuderstand dauern mehrere Wochen – zum Beispiel, wenn sie den Dauerbetrieb im E-Auto simulieren sollen. Die Experten von Schenck fahren dann viele Tausend Testzyklen bei verschiedenen Umdrehungszahlen. Wenn der Kunde es wünscht, bietet Schenck auch den ultimativen Test: Der Gegenstand wird so lange beschleunigt, bis er auseinanderfliegt. Dafür sind manchmal 200.000 Umdrehungen pro Minute nötig. Die Spuren solcher Härtetests sind auf den stählernen Innenwänden der Schleuderstände zu sehen. Sie sind mit Kratern übersät.
Schleuderstände wurden früher ausschließlich dafür verwendet, die Belastungsgrenze eines Materials zu ermitteln. Erst Buschbeck und sein Team ergänzten die Anlagen mit digitaler Messtechnik und moderner Software. Damit machten sie aus Schleuderständen Hightech-Produkte. Mithilfe von optischen Sensoren, Laserstrahlen und elektrischen Feldern lassen sich Veränderungen des Materials heute in jeder Phase der Prüfung nachvollziehen.
Derzeit arbeiten die Entwickler an einer weiteren Innovation. Sie wollen die rotierenden Teile in ihren Schleuderständen mit ungewöhnlich kurzen Blitzen fotografieren. Die Ergebnisse bestünden dann nicht mehr nur aus Messergebnissen, sondern auch aus Bildern, was das Verständnis erleichtert.
Immer wieder treten auch Kunden mit speziellen Wünschen an die Schleuderspezialisten heran – wie zum Beispiel Hersteller von Turbinenrädern. Sie geben Teile des Materials bei Buschbeck ab, wenn sie eine Spezialprüfung wünschen. Für einen Kunden, der das Pumpenrad einer Rakete testen wollte, hat Schenck RoTec extra einen Schleuderstand gebaut.
Im vergangenen Jahr waren die Experten aus Darmstadt an einem echten Zukunftsprojekt beteiligt. Studierende der ETH Zürich hatten ein Fahrzeug konstruiert, mit dem sie an einem von Tesla-Gründer Elon Musk ausgeschriebenem Wettbewerb teilnehmen wollten. Dabei ging es um ein neues Mobilitätskonzept – → Hyperloop. Transportkapseln sollen dabei mit mehr als 1.000 Kilometern pro Stunde durch eine Vakuumröhre geschossen werden. Schenck prüfte vor dem Wettbewerb die drehenden Teile des Gefährts im Schleuderstand. Und leistete einen Beitrag zum Erfolg der Mannschaft: Das Hochschulteam konnte zum Finale nach Kalifornien reisen – und dort den zweiten Platz belegen.