Einzelstücke in Serie
Es soll schon etwas Besonderes sein – von diesem Grundsatz lassen sich immer mehr Menschen leiten, wenn sie eine Kaufentscheidung treffen.
Globalisierung, Digitalisierung und Wohlstandszuwachs haben die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung vervielfacht – und auch den Wunsch danach geschürt. Individualisierung ist ein Trend, der sich nicht nur gesellschaftlich niederschlägt, sondern auch für die Wirtschaft Chancen birgt. Prof. Dr. Frank T. Piller ist einer der führenden Experten für Strategien zur kundenzentrierten Wertschöpfung wie Mass Customization und Personalisierung. Mit ihm haben wir uns über diesen Trend unterhalten.
HERR PROFESSOR PILLER, WARUM WIRD INDIVIDUALISIERUNG HEUTZUTAGE IMMER WICHTIGER?
In der Gesellschaft gibt es dafür zwei bedeutende Entwicklungen. Zum einen die zunehmende Diversität in Bezug auf Altersstufen, Kulturen und Lebensstile. Die überträgt sich auch in eine höhere Variantenvielfalt der Produkte. Zum anderen treten jetzt die Generationen Y und Z in den Konsum ein. Die kennen in ihrem privaten Medienkonsum gar nichts anderes als Individualisierung; die kennen kein Fernsehen mehr oder LPs. Die kennen Video-on-Demand, Streaming und selbst zusammengestellte Newsfeeds. Das überträgt sich am Ende auch auf den privaten Konsum. Insgesamt aber bleibt bei Konsumgütern der Handel der Haupttreiber für Individualisierung. Denn für eine Handelskette personalisierte Produkte oder Verpackungen sorgen für ein exklusives Sortiment. Und exklusive Sortimente unterliegen nicht dem üblichen Preiswettbewerb.
MUSS DENN JEDES UNTERNEHMEN SEINE PRODUKTE INDIVIDUALISIERBAR ANBIETEN?
Nein, und wichtig ist auch, dass Individualisierung nicht bedeutet, dass ein Produkt „on Demand“ einzeln hergestellt wird. Kunden wollen, was sie wollen – wie der Hersteller dies befriedigt, ist ihnen egal. Und wenn ein Massenprodukt dieses Bedürfnis stillt, dann ist das so. Deshalb gibt es beispielsweise im Sportschuhbereich sehr erfolgreiche „Match to order“-Anwendungen, bei denen ein bestehendes Produkt einem Kunden passend zu seinem Bedürfnis empfohlen wird. Es gibt genug Sportschuhe auf dem Markt. Ich weiß nur nicht, welcher am besten zu meinen Bedürfnissen passt. Hier geschieht die massenhafte Individualisierung im Verkaufsprozess.
Zur Person
Prof. Dr. Frank T. Piller leitet das Institut für Technologie- und Innovationsmanagement an der RWTH Aachen. Als Studiendirektor verantwortet er zudem den gemeinsamen Executive MBA der RWTH Aachen und Fraunhofer Gesellschaft. Er ist Co-Founder der Smart Customization Group am Massachusetts Institute of Technology (MIT), USA, wo er von Ende 2004 bis Anfang 2007 an der MIT Sloan School of Management arbeitete.
WIE KÖNNEN MASCHINEN- UND ANLAGENBAUER VON DER INDIVIDUALISIERUNG PROFITIEREN?
Indem sie Nutzen für ihre Kunden stiften! Individualisierung ist kein Selbstzweck. Sie muss dort ansetzen, wo der Maschinenkäufer bereit ist, für die Individualisierung zu zahlen – also etwa für die Fähigkeit der Maschine, selbst Produkte individualisiert herstellen zu können. Ich kenne aber genug Maschinenbauer, die voller Stolz die vielen Möglichkeiten einer individuellen Produktion von Gütern mit ihren Anlagen zeigen. Später wundern sie sich dann, dass die potenziellen Maschinenkäufer gar nicht wissen, was sie mit den Individualisierungsmöglichkeiten anfangen sollen. Weil es nämlich noch an einem entsprechenden Geschäftsmodell fehlt. Großes Potenzial sehe ich auch durch die Individualisierung begleitender Dienstleistungen. Service-Geschäft ist, wenn gut gemanagt, immer Mass Customization.
WAS DENKEN SIE, WO GEHT DIE REISE HIN? BESTELLEN WIR 2050 NUR NOCH PERFEKT AUF UNS ZUGESCHNITTENE KLEIDUNG UND AUTOS?
Spannende Frage – es wird sich aufteilen. Autos werden wir zukünftig eher teilen und nicht besitzen. Umso wichtiger wird die Personalisierung in der Nutzungsphase. Nicht über Hardwarekomponenten, sondern über „Smart Products“. Das bedeutet, dass der Nutzer Massenprodukte nach seinen Vorstellungen durch software-technische Anpassungen oder personalisierte Services individualisiert. Hierfür bietet das vernetzte Auto viele Möglichkeiten: Es passt beispielsweise die Innenbeleuchtung automatisch an meine Vorlieben an. Gleichzeitig wird aber in den Märkten, in denen man das Auto noch besitzt, der Wunsch nach Anpassung der „Hardware“ weiter steigen. Bei Kleidung können wir heute schon beobachten, dass sich die Herstellung dank automatisierter Produktionstechnik von Niedriglohnländern in die Absatzmärkte verlagert. Hier sehe ich als Hauptnutzer der Individualisierung aber wieder nicht den Endverbraucher, sondern den Handel oder Business-to-Business-to-Consumer-Geschäftsmodelle: Jeder Händler kann nun eine individuelle Kollektion für die kommende Woche bestellen, aber auch zum Beispiel eine Influencerin auf Instagram ihre eigene Modekollektion in kleinster Auflage kreieren und an ihre Follower verkaufen. Diese Art der Individualisierung bietet Riesenpotenziale!
Ob Einbauküche oder Auto – mit Fertigungstechnik aus dem Dürr-Konzern lassen sich Einzelstücke serienmäßig herstellen.
Autonome Tischlerwerkstatt
Schublade breiter, Tisch höher, Schrank schmaler – Kunden verlangen mehr Möbel nach Maß. Die holzbearbeitende Industrie hat sich längst darauf eingestellt und fertigt mit Technik der HOMAG Group Einzelstücke vollautomatisch ähnlich effizient wie in Serienfertigung. Was bislang aber großen Unternehmen vorbehalten war, lohnt sich nun auch für kleinere Tischlereien. Die Dürr-Tochter aus dem Schwarzwald hat mit der sogenannten autonomen Zelle eine Werkstatt entwickelt, die völlig eigenständig arbeitet. Zugeschnittene Holzplatten werden zunächst mit einem maschinenlesbaren Barcode versehen, der alle Bearbeitungsinformationen enthält. Im nächsten Schritt verleimt eine Maschine die Kanten an den Schnittseiten des Holzes. Nun folgt das Herzstück, eine CNC-Maschine, die Bohrlöcher und Dübel mit höchster Präzision setzt. Den Transport der Werkstücke übernimmt ein kleines autonomes Transportfahrzeug. Der fahrbare Roboter pendelt zwischen den Stationen, nimmt Platten auf, setzt sie an der nächsten Maschine oder im Zwischenlager ab. Die Kontrolle hat eine Software, die alle Komponenten der Werkstatt vernetzt.
Klare Konturen für bunte Lacke
Um sich von der Masse abzuheben, bestellen Neuwagenkäufer gern eine Kontrastfarbe für das Dach. Oder sie wünschen sich Zierstreifen, dann sieht das Fahrzeug schön schnittig aus. Was dem Besitzer Laune macht, bereitet dem Hersteller Mühe. Nach dem ersten Lackiervorgang müssen Arbeiter im Werk die Karosserie mit Schutzfolie abkleben und lassen wie bei einer Schablone nur die Stellen frei, die eine andere Farbe erhalten sollen. Nach der zweiten Lackierung wird die Folie abgezogen. Das kostet Zeit und Material. Abhilfe schafft das Dürr-Verfahren EcoPaintJet. Die Düsen am Roboterarm sprühen dabei keinen Lacknebel mehr auf die Karosserie. Dieser lässt sich nämlich ohne Schablone nicht trennscharf auftragen; er landet auch dort, wo er nicht gewünscht ist. Die EcoPaintJet-Düsen schweben mit minimalem Abstand über der Fahrzeugoberfläche und arbeiten so gezielt, dass auch kleinste Lacktröpfchen genau an der richtigen Stelle landen. Lackstreifen lassen sich so exakt nebeneinander und randscharf auftragen – schneller, sauberer und sparsamer als je zuvor.
Putzende Molche
Sie erinnern an Regenbögen, Saphire oder Saharasand – die Rede ist von Sonderfarben, die bei Fahrzeugkäufern beliebt sind. Die Zahl der auffälligen und seltenen Lackierungen im Pkw- und Nutzfahrzeugbereich hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Die Modelle mit den besonderen Farben werden oft in Kleinstserien lackiert, was die Kosten in die Höhe treibt. Hersteller wollen ihre Lackierstraßen deshalb so ausrüsten, dass der Sonderfarbwechsel in der Serienlackierung schnell, sparsam und rückstandsfrei möglich ist. Dürr hat deshalb die Sonderfarbversorgung EcoSupply P entwickelt, die für geringe Stückzahlen besonders geeignet ist. Das System arbeitet mithilfe der sogenannten Molchtechnik. Molche sind kleine, gleitfähige Passkörper, die Farben durch Schläuche schieben. Nach dem Lackauftrag drücken diese Molche die Restfarbe rückstandsfrei zurück in die Behälter und reinigen die Schläuche. Das geht schneller und der Farbverlust ist wesentlich geringer als bei den bislang verbreiteten Kleinringleitungssystemen. Das gesamte System, vom Molch bis zum Lackierroboter, wird mit intelligenter Anlagentechnik von Dürr gesteuert.