Warum tritt an einem Karosserieteil ungewöhnlich häufig derselbe Fehler auf? Wann ist der späteste Zeitpunkt, einen Mischer im Roboter auszutauschen, ohne einen Maschinenstillstand zu provozieren? Exakte Antworten sind wichtig für einen nachhaltig ökonomischen Erfolg. Denn jeder Fehler oder jeder unnötige Wartungseinsatz, der sich vermeiden lässt, spart Geld oder verbessert die Produktqualität. „Präzise Aussagen zur Früherkennung von Qualitätsmängeln oder Ausfällen gibt es bisher kaum. Und wenn, basieren sie in der Regel auf einer mühsamen analogen Datenauswertung oder Trial-and-Error-Versuchen. Mit Künstlicher Intelligenz (KI) geht das jetzt wesentlich genauer und automatisch“, erklärt Gerhard Alonso Garcia, Vice President MES & Control Systems bei Dürr.
Die neue selbstlernende Anlagen- und Prozessüberwachung Advanced Analytics erweitert DXQanalyze. Die digitale Produktfamilie von Dürr beinhaltete bereits die Module Data Acquisition für die Erfassung von Produktionsdaten, Visual Analytics für deren Visualisierung sowie Streaming Analytics. Mit letzterem können Anlagenbetreiber nahezu in Echtzeit mit Hilfe einer sogenannten Low-Code-Plattform analysieren, ob es in der Produktion zu Abweichungen von zuvor festgelegten Regeln oder Sollwerten kommt.
KI-Applikation mit eigenem Gedächtnis
Das Besondere an Advanced Analytics ist, dass dieses Modul große Datenmengen einschließlich historischer Daten mit maschinellem Lernen kombiniert. Im übertragenen Sinne bedeutet das: Die selbstlernende KI-Applikation besitzt ein Gedächtnis. Dadurch kann sie, basierend auf den Informationen aus der Vergangenheit, sowohl komplexe Zusammenhänge in großen Datenmengen erkennen, als auch anhand des aktuellen Zustands einer Maschine ein Ereignis in der Zukunft sehr exakt prognostizieren. Dafür gibt es viele Anwendungsfälle in Lackieranlagen – auf der Komponenten-, Prozess- und Anlagenebene.
Vorausschauende Wartung verringert Anlagenstillstand
Im Bereich der Komponenten zielt Advanced Analytics darauf ab, die Downtime durch prädiktive Wartungs- und Instandhaltungsinformationen zu verringern, wie etwa durch die Prognose der verbleibenden Lebensdauer eines Mischers. Wird das Bauteil zu früh getauscht, erhöht das unnötig die Ersatzteilkosten und Instandhaltungsaufwände, während ein zu später Tausch zu Qualitätsproblemen bei der Beschichtung und zu einem Maschinenstillstand führen kann. Advanced Analytics erlernt zunächst anhand hochfrequenter Roboterdaten die Verschleißindikatoren und das zeitliche Muster des Verschleißes. Da die Daten kontinuierlich erfasst und überwacht werden, erkennt das Machine-Learning-Modul – basierend auf der tatsächlichen Nutzung – Alterungstrends individuell für die jeweilige Komponente und berechnet so den optimalen Austauschzeitpunkt.
Machine Learning simuliert kontinuierliche Temperaturkurven
Advanced Analytics verbessert die Qualität auf der Prozessebene, indem es Anomalien feststellt, etwa durch eine Simulation der Aufheizkurve im Trockner. Bisher stehen den Herstellern nur Daten zur Verfügung, die Sensoren bei Messfahrten ermitteln. Die Aufheizkurven, die für die Oberflächenqualität der Karosserie von entscheidender Bedeutung sind, verändern sich jedoch, da der Trockner in den Intervallen zwischen den Messfahrten altert. Der Verschleiß bewirkt schwankende Umgebungsbedingungen, etwa bei der Stärke des Luftstroms. „Heutzutage werden Tausende Karosserien produziert, ohne dass wir wissen, auf welche Temperaturen die einzelne Karosserie aufgeheizt wurde. Durch das maschinelle Lernen simuliert unser Machine-Learning-Modul, wie sich die Temperatur bei unterschiedlichen Bedingungen verändert. Dadurch erhalten unsere Kunden einen permanenten Qualitätsnachweis für jede Einzelkarosserie und können Anomalien feststellen“, sagt Gerhard Alonso Garcia.
Höhere Erstläuferquote steigert Gesamtanlageneffektivität
Auf der Anlagenebene wird die Software DXQplant.analytics mit dem Modul Advanced Analytics eingesetzt, um die übergreifende Gesamtanlageneffektivität (Overall Equipment Efficency, OEE) zu steigern. Die Künstliche Intelligenz spürt systematische Fehler auf, wie beispielsweise wiederkehrende Qualitätsdefekte bei bestimmten Modelltypen, speziellen Farben oder an einzelnen Karosserieteilen. Das wiederum erlaubt Rückschlüsse, welcher Schritt im Produktionsprozess für die Abweichungen verantwortlich ist. Solche Fehler-Ursachen-Korrelationen erlauben es zukünftig, die Erstläuferquote zu erhöhen, da sehr frühzeitig reagiert werden kann.
Anlagen-Know-how und Digitalkompetenz gekonnt kombiniert
KI-fähige Datenmodelle zu entwickeln, ist sehr komplex. Denn maschinelles Lernen funktioniert nicht, indem man unspezifische Datenmengen in einen „schlauen“ Algorithmus einspeist, der daraufhin ein intelligentes Ergebnis ausspuckt. Stattdessen müssen relevante (Sensor-) Signale gesammelt, sorgfältig ausgewählt und mit strukturierten Zusatzinformationen aus der Fertigung versehen werden. Mit Advanced Analytics entwickelte Dürr eine Software, welche verschiedene Einsatzszenarien unterstützt, eine Laufzeitumgebung für Machine-Learning-Modelle bereitstellt und ein Modelltraining anstößt. „Die Herausforderung bestand darin, dass es kein allgemeingültiges Machine-Learning-Modell und keine passende Laufzeitumgebung gab, die wir hätten nutzen können. Um anlagennah KI einsetzen zu können, haben wir unser Wissen aus dem Maschinen- und Anlagenbau mit dem Know-how unserer Experten aus der Digital Factory kombiniert. Daraus ist die erste KI-Lösung für Lackierereien entstanden“, erklärt Gerhard Alonso Garcia.
Durch Nutzung der Laufzeitumgebung und Entwicklung spezifischer Machine-Learning-Modelle wird aktuell der Einsatz des Advanced Analytics Moduls in der Holzbearbeitungsbranche sowie in der Elektronikfertigung getestet.
Interdisziplinäres Know-how erforderlich
Advanced Analytics wurde von einem interdisziplinären Team entwickelt, das aus Data Scientisten, Informatikern und Prozessexperten bestand. Außerdem ging Dürr mit mehreren führenden Automobilherstellern Kooperationspartnerschaften ein. Dadurch standen den Entwicklern reale Fertigungsdaten und Beta-Site-Umgebungen in der Produktion für unterschiedliche Anwendungsfälle zur Verfügung. Zunächst wurden die Algorithmen anhand zahlreicher Testfälle im Labor trainiert. Im nächsten Schritt lernten die Algorithmen im Betrieb vor Ort weiter und passten sich selbständig an Umgebung und Nutzungsbedingungen an. Die Beta-Phase wurde kürzlich erfolgreich abgeschlossen und hat gezeigt, wie groß das Potenzial von KI ist.