Die Zukunftsfabrik
In unseren Digital Factories treiben rund 100 Experten die vernetzte, intelligente Fertigung voran. Um erfolgreiche digitale Produkte zu entwickeln, müssen sie nicht nur kreativ sein, sondern auch schnell.
Krawatte? Trägt hier kaum jemand! Anzug oder Kostüm? Ebenfalls selten! Stattdessen prägen offene Hemden und Jeans das Erscheinungsbild. Konzentriert, aber ungezwungen schauen die Anwesenden auf Poster und Bildschirme, diskutieren neue digitale Ideen. Die Software-Entwickler und Steuerungstechniker gehören zur Dürr Digital Factory – der Vorhut von Dürr auf dem Weg in die Welt der vernetzten Industrie. Mehrmals im Jahr kommen sie für einen Tag im Foyer der Konzernzentrale in Bietigheim-Bissingen zusammen, um sich an Ständen und Stehtischen über ihre Projekte auszutauschen.
Einer von ihnen ist Nico Koch. Er leitet ein Team mit elf Leuten, zwischen 23 und 40 Jahre alt. Koch arbeitet gern in der Digital Factory. Er mag das Engagement, die Leidenschaft, die Energie seiner Kollegen. „Die Zusammenarbeit klappt sehr gut“, sagt der 40-Jährige. Routine? Langeweile? Die gebe es in der Digital Factory noch weniger als sonst im Konzern. Eines seiner aktuellen Projekte ist die Entwicklung einer Applikation, mit der sich Daten aus der Fertigung so auswerten lassen, dass die Wartung von Maschinen vorhersehbarer und einfacher wird – und die Qualität der Produktion steigt. Eine von vielen Lösungen, die den Kunden aus der Automobilindustrie messbare Vorteile bringen.
Die Dürr Digital Factory ist eine Division-übergreifende Organisation. Das heißt, die Mitarbeiter arbeiten gemeinsam, gehören aber zu verschiedenen Divisions – Paint and Final Assembly Systems, Application Technology oder Clean Technology Systems. Früher konnte es schon einmal vorkommen, dass mehrere Teams an ähnlichen Ideen gearbeitet haben. Jetzt werden die Kräfte in der Digital Factory zielgerichtet eingesetzt.
Entwickler müssen Trends am Markt sehr früh erkennen und die Chancen von neuen Anwendungen sofort beurteilen können.
Dr. Weyrauch , Vorstandsvorsitzender der Dürr Systems AG
Das gilt auch für Woodworking Machinery and Systems, die aus der Akquisition der HOMAG Group AG entstandene Division mit Sitz in Schopfloch im Schwarzwald. In der Division, die Maschinen und Anlagen für die holzbearbeitende Industrie herstellt, haben sich Software-Experten in einer weiteren Digital Factory zusammengeschlossen – spezialisiert auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Kunden. „Möbelhersteller kaufen oft keine einzelnen Maschinen oder Anlagen mehr“, berichtet Uwe Jonas, Vice President Consulting und Software bei HOMAG. Stattdessen benötigen sie für ihre Fabriken und Werkstätten komplette Lösungen vom Zuschnitt bis zum Verpacken der fertigen Teile. Idealerweise müssen die Produktionslinien Möbelstücke in Losgröße 1 fertigen können, das heißt, kein Möbelstück gleicht dem anderen. Gesteuert werden diese Produktionssysteme von komplexer, aber leicht bedienbarer Software, die von der HOMAG Digital Factory entwickelt wird. Eine weitere Digital Factory gibt es bei der Dürr-Tochter Schenck RoTec.
Working in the Digital Factory
Einschneidender Wandel
Die Industrie befindet sich weltweit in einem tief greifenden technischen Wandel. Schon heute ist die Produktion innerhalb einzelner Werke eng verzahnt. Auf lange Sicht werden Fabriken vermutlich nicht mehr isoliert arbeiten, sondern sich selbst über digitale Plattformen koordinieren. Über das industrielle Internet der Dinge (IIoT) wird das eines Tages vollautomatisch über Kontinente hinweg möglich sein. Unternehmen können die Werke ihres Produktionsnetzwerks vergleichen und aufeinander abstimmen. Dr. Jochen Weyrauch, Vorstandsvorsitzender der Dürr Systems AG, ist sich sicher: „Im Maschinenbau ist das ein Trend, der die Zukunft der Branche entscheidend prägt.“
Wettbewerber von Dürr sind deshalb nicht mehr nur die altbekannten Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau. „Auch Software-Firmen wollen auf dem Markt Fuß fassen“, stellt Dr. Annabel Jondral fest, Senior Manager in der Dürr Digital Factory. Sie bieten eigene IIoT-Plattformen und stellen darüber Applikationen zur Verfügung. Dürr hat deshalb mit Partnern aus der Maschinenbau- und Software-Branche die IIoT-Plattform ADAMOS entwickelt.
_Hackath[on]
_Wettbewerb der Programmierer
Konzentriert arbeiten und gemeinsam Spaß haben – so lässt sich die Stimmung beim zweiten ADAMOS-Hackathon beschreiben. Drei Tage lang entwickelten 60 Programmierer Apps und andere Software-Produkte für das Industrielle Internet der Dinge (IIoT). Die Bilder zeigen Eindrücke des Wettbewerbs, den Dürr ausrichtete und der künftig regelmäßig stattfinden soll.
_Was ist ein Hackathon?
Ein Hackathon ist ein Wettbewerb zum Programmieren von Software. Die Teilnehmer kommen meist aus unterschiedlichen Bereichen und arbeiten in gemischten Teams. Auf diese Weise werden Erfahrungen weitergegeben und Kontakte geknüpft. Anders als bei gewöhnlichen Arbeitstreffen liegt beim Hackathon der Schwerpunkt noch mehr auf dem Spaß am Tun und der Leidenschaft für das Produkt.
"Ungezwungen, aber fokussiert und bis in die Haarspitzen motiviert: Die Hackathon-Mannschaft hat mich begeistert."
Ralf W. Dieter, Vorstandsvorsitzender
Dürr AG
Der Begriff Hackathon ist ein Kunstwort: Die erste Silbe bezieht sich auf das englische Verb to hack, mit dem früher das Eindringen in fremde IT-Systeme bezeichnet wurde. In der IT-Szene ist das Wort heute auch ein Synonym für legales Programmieren. Der zweite Teil des Begriffs steht für Marathon – denn ein Hackathon erfordert Ausdauer. Oft dauert er mehrere Tage.
Schnell entscheiden, flexibel arbeiten
Die Digitalisierung lässt in allen Branchen das Entwicklungstempo steigen. Eine gute Maschine ist in drei Jahren marktreif, gute Software in wenigen Monaten. „Entwickler müssen deshalb Trends am Markt sehr früh erkennen und die Chancen von neuen Anwendungen sofort beurteilen können“, sagt Dr. Weyrauch. Auch die Wünsche der Kunden können sich schnell ändern. Folge ist, dass Ausrüster wie Dürr die Entwicklung neuer Software immer seltener detailliert planen können. Flexibilität ist gefordert.
Auch aus diesem Grund setzt die Digital Factory auf das Prinzip des agilen Arbeitens. Bei dieser Arbeitsweise organisieren sich Teams, wo sinnvoll, selbstständig und flexibel und arbeiten inkrementell. Das bedeutet: Die Software-Entwicklung erfolgt in kleinen Schritten, Verbesserungen werden kontinuierlich eingearbeitet. In der Digital Factory von Dürr organisieren sich die meisten Teams grundsätzlich selbst, treffen Entscheidungen eigenverantwortlich und teilen die Aufgaben unter sich auf. So läuft die Arbeit weiter, wenn Vorgesetzte für wichtige Entscheidungen nicht greifbar sind.
Digitale Daten sind der neue Rohstoff
Eigener Kopf und unkonventionelles Denken sind in der Dürr Digital Factory willkommen. Ein Umfeld, das Paul Thomä sehr zusagt. Der 30-jährige Mathematiker arbeitet seit einem Jahr bei Dürr und ist zufrieden: „Ich mag den lockeren Umgang und die flachen Hierarchien.“ Thomä arbeitet an der Entwicklung von selbstlernenden Systemen, die sich aus großen Datenmengen speisen. Seine Arbeit bildet die Basis für Fertigungslinien, die im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz ihre Prozesse selbstständig optimieren sollen.
Fertigungsdaten sind ein Rohstoff der Digital Factory, vom Pumpendruck über die Temperatur bis zur Betriebsstundenzahl. Diese Daten werden in Fabriken seit Langem unter anderem durch Sensoren ermittelt, die an unterschiedlichen Stellen eingebaut sind. Bislang dienten sie meist dazu, Abläufe zu überwachen. Die Experten der Digital Factory gehen weiter. Ihre Applikationen vergleichen die aktuellen Werte in Echtzeit mit Sollwerten, das nennen Fachleute Streaming Analytics. Auch historische Daten werden analysiert. Daraus lassen sich Abweichungen oder Muster erkennen. Die Ergebnisse dienen dazu, Fehlersuche und Wartung zu optimieren. Auch Rückschlüsse auf die Prozessgüte und damit die Qualität der gefertigten Produkte sind möglich. Möglichst viele Teile sollen auf Anhieb fehlerfrei produziert werden. Je höher diese „First-Run-Rate“, desto geringer die Kosten für aufwändige Nacharbeit. Derzeit laufen rund 20 Entwicklungsprojekte in der Dürr Digital Factory. Autofabriken setzen die ersten Software-Produkte bereits ein. Für die Mitarbeiter ist das eine bedeutende Motivation. Erfolg ist wichtig, damit die Arbeit in der Digital Factory Spaß macht. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Bislang gebe es damit keine Probleme, so Teamleiter Koch über seine Mitarbeiter: „Die brennen richtig für die Themen.“
Ausgewählte Applikationen
DXQequipment.analytics
Die Analyse-Software zeichnet lückenlos alle Daten aus dem Lackierprozess auf. So entsteht für jede lackierte Karosserie ein „digitaler Fingerabdruck“. Er enthält unter anderem Informationen über die Bewegungen der Lackierroboter, den Lackverbrauch und die exakte Position der Karosserie beim Lackieren. Tritt ein Qualitätsproblem auf, lässt sich die Ursache anhand der aufgezeichneten Daten sofort ermitteln. Beispielsweise kann sich der Anlagenbetreiber für jedes lackierte Auto jede gefahrene Bahn der Lackierroboter am Bildschirm auf das CAD-Modell der Karosserie projizieren lassen. Zudem verarbeiten Algorithmen Daten aus dem Lackierprozess in Echtzeit und zeigen Anomalien auf. Dank dieser Streaming-Analytics-Funktion können Fehler umgehend behoben werden. Hinzu kommt schon bald eine Batch-Analytics-Funktion: Die Software analysiert dafür historische Daten, leitet Trends ab und entwickelt mithilfe künstlicher Intelligenz Prognosen und Handlungsempfehlungen.
DXQequipment.maintenance
Die Applikation unterstützt Kunden bei der Wartung in großen Autolackierereien. Tausende Komponenten müssen instand gehalten werden, zum Beispiel Pumpen, Ventile, Filter oder Sonden. Über alle Bestandteile führt der DXQequipment.maintenance Buch. Er zeigt Wartungstermine an, bietet Zugriff auf Anleitungen, lässt sich erledigte Arbeiten quittieren und erstellt eine Wartungshistorie. Ein Alleinstellungsmerkmal ist, dass die Software nicht nur die Termine fester Wartungsintervalle meldet, sondern auch zyklusbasiert arbeitet. Das bedeutet: Sie zählt, wie oft eine Komponente genutzt wurde, und berechnet die verbleibende Restnutzungszeit. Dafür greift sie auf Steuerungen in der Lackiererei zu, um Nutzungsdaten zu erhalten.
intelliSanding
Ob Schleifen, Lackieren, Laminieren oder Hobeln – durch den Einsatz der richtigen App lassen sich gängige Arbeiten einfacher und effizienter gestalten. Die HOMAG Group hat dafür eine eigene App-Familie entwickelt. Zu den Apps der Business Unit Surface Processing gehören digitale Produktionsassistenten für Maschinenbediener in Industrie und Handwerk. Beispiel intelliSanding, die App zum Schleifen: Sie schlägt dem Nutzer die zum Auftrag passenden Einstellungen vor. Außerdem berechnet und visualisiert sie die verbleibende Lebensdauer der Schleifbänder und schätzt das Volumen der pro Tag, Schicht oder Minute abzusaugenden Späne. Die HOMAG-Anwendungen funktionieren auch mit Maschinen anderer Hersteller und haben damit ein enormes Marktpotenzial.